In der Bitcoin-Szene ist der Internationale Währungsfonds (IWF) für seine kritische Haltung gegenüber Bitcoin bekannt. Beispielsweise forderte der IWF Anfang 2022 das Land El Salvador auf, Bitcoin als Zahlungsmittel wieder abzuschaffen. Begründung dafür war, dass Bitcoin große Risiken für die Finanzstabilität berge.

Umso spannender ist es, dass der IWF in einer aktuellen wissenschaftlichen Arbeit eine vermehrte Aktivität im Bitcoin-Markt bei eben jener finanziellen Instabilität feststellt. Eine weitere Erkenntnis des Papers ist, dass Bitcoin anscheinend dabei helfen kann, Kapitalkontrollen zu umgehen.

Grenzüberschreitende Off-Chain-Bitcoin-Kapitalflüsse scheinen mit Anreizen zur Vermeidung von Kapitalverkehrsbeschränkungen zusammenzuhängen.
Aus dem Paper

Zu ähnlich teilweise positiven Ergebnissen kam vor wenigen Monaten auch ein Paper von Ökonomen der Europäischen Zentralbank, die normalerweise auch kein gutes Haar an Bitcoin lässt – Blocktrainer berichtete.

Die Relevanz des Papers

Das Anfang dieses Monats veröffentlichte IWF-Paper trägt den Titel „A Primer on Bitcoin Cross-Border Flows“, was so viel bedeutet, wie „Eine Grundlage für den grenzüberschreitenden Zahlungsverkehr mit Bitcoin“. Verfasst haben das Paper drei Mitarbeiter des IWF und zur Veröffentlichung autorisiert hat es Kenneth Kang, stellvertretender Direktor in der Abteilung Strategie, Politik und Überprüfung und „Agenda Contributor“ des Weltwirtschaftsforums (WEF). 

Die Autoren versuchen, anhand sehr umfangreicher Methodiken grenzüberschreitende Kapitalflüsse mittels Bitcoin zu quantifizieren, und unterscheiden dabei zwischen On-Chain- und Off-Chain-Transaktionen. Erstere sind diejenigen, die direkt über die Bitcoin-Blockchain abgewickelt werden, und Off-Chain-Transaktionen, die über einen Mittelsmann – beispielsweise eine Exchange – laufen. Anhand dieser Daten versuchen die Ökonomen, auch einen Zusammenhang von grenzüberschreitenden Bitcoin-Kapitalflüssen und makroökonomischen Gegebenheiten wie finanzieller Unsicherheit festzustellen.

Alleine schon den Umfang und Tiefgang des 43-seitigen Papers sowie die ausgeklügelten Mechanismen zur Messung der Kapitalflüsse deutet Matt Hougan, CIO vom Vermögensverwalter Bitwise, der in den USA einen Bitcoin-Spot-ETF an den Start gebracht hat, als positives Anzeichen für die zugenommene Relevanz des Assets.

Erkenntnis #3: Der IWF schenkt Bitcoin Aufmerksamkeit.

Dies ist ein seriöses Papier. Es wurde von drei IWF-Researchern verfasst, enthält eine Übersicht über die einschlägige akademische Literatur und verfolgt einen ausgefeilten Ansatz zur Verwendung von On- und Off-Chain-Techniken, um Bitcoin-Kapitalströme zu bestimmen.

Der IWF führt diese Untersuchung durch, weil Bitcoin "in den letzten zehn Jahren schnell gewachsen ist" und die politischen Entscheidungsträger zunehmend die Auswirkungen davon auf die Weltwirtschaft verstehen müssen.
Matt Hougan auf 𝕏 

Verhältnismäßig hohe Bitcoin-Kapitalflüsse in Entwicklungsländern

Eines der Haupterkenntnisse des Papers ist, dass relativ gesehen höhere Bitcoin-Kapitalflüsse in Entwicklungsländer, in denen es weniger ausgeprägte Finanzmärkte sowie häufiger Kapitalkontrollen gibt, zu beobachten sind. Dafür setzen die Autoren sowohl On-Chain als auch Off-Chain Bitcoin-Zuflüsse ins Verhältnis zu der dortigen Wirtschaftsleistung. Diesen Anteil stellen sie den relativen Zuflüssen in traditionelle Investment-Fonds (EPFR-Flows) der jeweiligen Länder gegenüber.

Das Ergebnis: Die Länder, die in Relation zu ihrer Wirtschaftsleistung die größten Kapitalzuflüsse via Bitcoin verzeichnen – sowohl On-Chain als auch Off-Chain –, sind auch eher diejenigen, in denen traditionelle Anlageprodukte kaum eine Rolle spielen und vice versa.

Das Ausmaß der grenzüberschreitenden Bitcoin-Kapitalflüsse ist in einigen Ländern beträchtlich, insbesondere in den Ländern, die nur geringe Kapitalflüsse verzeichnen. Umgekehrt haben Länder, die eher relativ große Kapitalflüsse verzeichnen, in der Regel geringere Bitcoin-Kapitalflüsse. Dies wird auch in Abbildung 9 deutlich, in der die Bitcoin-Zuflüsse den EPFR-Zuflüssen gegenübergestellt werden. Letztere sind am größten in fortgeschrittenen Volkswirtschaften mit hoch entwickelten Finanzmärkten, während Bitcoin-Zuflüsse in der Regel in Schwellen- und Entwicklungsländern größer sind.
Aus dem Paper

Auffällig hierbei ist, dass das Hochinflationsland Venezuela (VEN) bei On-Chain- und Off-Chain-Bitcoin-Kapitalflüssen im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung weit vorne dabei ist. Bei Off-Chain-Bitcoin-Kapitalflüssen via der mittlerweile geschlossenen Exchange LocalBitcoins sind auch Länder mit hohen Inflationsraten und/oder strengen Kapitalkontrollen vertreten, wie Argentinien (ARG), Nigeria (NGA) und Kolumbien (COL).

Auch finden die Ökonomen heraus, dass in Ländern, in denen es eine stärkere Abweichung vom offiziellen zum tatsächlichen Wechselkurs der Landeswährung gibt (Parallelkursaufschlag), den sie anhand des Bitcoin-Kurses in den jeweiligen Währungen auf LocalBitcoins festgemacht haben, höhere Kapitalabflüsse via Bitcoin zu beobachten sind. Daraus schlussfolgern die IWF-Mitarbeiter, dass Bitcoin genutzt wird, um Kapitalkontrollen zu umgehen.

Off-Chain-Daten deuten auch darauf hin, dass ein Anstieg eines Bitcoin-basierten Maßes für den Parallelkursaufschlag mit höheren Abflüssen verbunden ist. Diese Ergebnisse stehen im Einklang mit einer Reihe neuerer Arbeiten, die darauf hindeuten, dass Bitcoin die Umgehung von Kapitalverkehrsbeschränkungen erleichtert.
Aus dem Paper

Auch fügen die Autoren hinzu, dass es Evidenz dafür gibt, dass auch Remmitances, also Überweisungen von Migranten zurück in ihr Heimatland, hinter grenzüberschreitenden Off-Chain-Bitcoin-Kapitalflüssen stehen. 

Bitcoin-Nutzung bei finanzieller Unsicherheit

Des Weiteren erkennen die Autoren eine Zunahme der über die Krypto-Analysefirma Chainalysis gemessenen On-Chain-Bitcoin-Kapitalflüsse bei ökonomischer Unsicherheit. Wenn der Volatilitätsindex VIX, der die erwartete Schwankung des relevantesten Aktienindex S&P 500 quantifiziert, steigt, nimmt die Aktivität im Bitcoin-Markt zu. Damit verhalten sich die Bitcoin-Kapitalflüsse entgegengesetzt zu denen in traditionelle Anlageprodukte (EPFR- und IIF-Flows).

Insgesamt deutet unsere Analyse darauf hin, dass grenzüberschreitende Bitcoin-Zuflüsse anders als Kapitalflüsse auf traditionelle Faktoren reagieren. Die Reaktion der EPFR- und IIF-Zuflüsse entspricht unseren Erwartungen. Das heißt, wir stellen fest, dass ein Anstieg der Risikoaversion und eine Stärkung des Dollars zu geringeren Zuflüssen führen. Im Gegensatz zu den Kapitalströmen reagieren Chainalysis-Flüsse positiv auf Veränderungen des VIX.

Unsere grenzüberschreitenden Ergebnisse deuten darauf hin, dass die On-Chain-Bitcoin-Kapitalflüsse positiv mit dem VIX zusammenhängen (die entgegengesetzte Reaktion von Kapitalflüssen).
Aus dem Paper

Dieses Ergebnis scheint dafür zu sprechen, dass Bitcoin im Angesicht einer höheren Volatilität am traditionellen Markt für einige Menschen einen Zufluchtsort darstellt. Generell konkludieren die Autoren, dass eine erhöhte Nutzung von Bitcoin auch ein Anzeichen für Risse im dortigen Finanzsystem sein kann. 

Aus einer eher strukturellen Perspektive ist es sicherlich auch wichtig, die zugrundeliegenden Ungleichgewichte anzugehen, die sich im Druck auf den Wechselkurs manifestieren, da die Verwendung von Krypto-Vermögenswerten nur Symptome der Ungleichgewichte darstellen.
Aus dem Paper

Fazit

Dass sich Ökonomen des IWF so tiefgehend mit grenzüberschreitenden Bitcoin-Kapitalflüssen und dem Zusammenhang zu makroökonomischen Variablen beschäftigen, ist durchaus positiv zu werden. Generell scheinen immer mehr wissenschaftliche Arbeiten zu Bitcoin von großen Institutionen geschrieben zu werden, die auch anhand der Evidenz feststellen, dass Bitcoin insbesondere für die Menschen in Entwicklungsländern einen Nutzen hat – auch wenn das Paper wie üblich mit dem Hinweis versehen ist, dass die Aussagen nur die Meinung der Autoren widerspiegeln und nicht die des IWF. 

Die Autoren des IWF-Papers betonen im Übrigen auch immer wieder, dass die Adoption von Bitcoin stark gestiegen und das Asset schon weitverbreitet für grenzüberschreitende Kapitalflüsse im Einsatz ist.

Die Verbreitung von Bitcoin hat in den letzten zehn Jahren rasant zugenommen.

Auf der Grundlage dieser Datensätze zu grenzüberschreitenden Bitcoin-Transaktionen zeigen wir, dass die Nutzung von Bitcoin für grenzüberschreitende Transaktionen geografisch sehr weit verbreitet ist, mit einer relativ hohen Intensität in den verschiedenen Regionen sowohl für Off-Chain- als auch für On-Chain-Bitcoin-Kapitalflüsse [...].
Aus dem Paper

Auch wenn das Ergebnis, dass Bitcoin wohl für die Umgehung von Kapitalkontrollen genutzt wird, einige aus der Bitcoin-Community, die Gegner von finanzieller Zensur sind, erfreuen könnte, sehen die IWF-Ökonomen dies wohl eher als eine Gefahr. Sie scheinen nämlich politische Entscheidungsträger mit dem, was sie herausgefunden haben, auf diesen Sachverhalt aufmerksam machen zu wollen, damit diese Bitcoin bei ihrer Gesetzgebung auf dem Schirm haben.

Wie der IWF (2023a) hervorhebt, sollten politische Entscheidungsträger, die Kapitalströme steuern wollen, sicherstellen, dass die Vorschriften zur Steuerung von Kapitalströmen Krypto-Vermögenswerte abdecken.
Aus dem Paper

Die erhöhte Bitcoin-Aktivität bei einer Zunahme der finanziellen Unsicherheit – festgemacht anhand der Korrelation zum VIX – ist interessant, aber wohl nicht Grund genug annehmen zu können, dass das Asset von vielen Menschen bereits als sicherer Hafen in Krisenumgebungen angesehen wird. Ein anderes Paper vom IMF hat zum Beispiel herausgefunden, dass Bitcoin bei höherer Volatilität am traditionellen Finanzmarkt als ein Risiko-Asset handelt. Dafür spricht auch der jüngste Kurseinbruch von Bitcoin in Reaktion auf die Auseinandersetzung zwischen dem Iran und Israel.

Ob und wann Bitcoin aufgrund des nicht vorhandenen Kontrahentenrisikos und der begrenzten Menge vom Großteil der Marktteilnehmer als der sichere Hafen schlechthin wahrgenommen wird, bleibt noch abzuwarten.